Kennung: 812

Berlin, 4. Juni 1907 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Barnowsky, Victor

Inhalt

[1. Entwurfsnotizen:]


Mephistos Todeskampf.

Aus diesem Titel ergab sich mir die Widmung „Meiner Braut“Die Widmung – sie galt Berthe Marie Denk [vgl. KSA 6, S. 645] – in der Buchausgabe von „Totentanz“ (1905) lautet: „Meiner Braut in innigster Liebe gewidmet“ [KSA 6, S. 100]; sie steht so bereits im Vorabdruck [vgl. Frank Wedekind: Totentanz. Drei Szenen. In: Die Fackel, Jg. 7, Nr. 183/184, 4.7.1905, S. 1]. als selbstverständlich. Die Widmung wird niemanden verletzen befremden können, dem Göthes Faust in Erinnerung ist.

Aus dem Titel ergiebt sich die Widmung als selbstverständlich für jeden dem Göthes FaustJohann Wolfgang Goethes Tragödie „Faust. Der Tragödie erster Teil“ (1808), eines der kanonisierten Werke des Bildungsbürgertums und im Kaiserreich sakrosankt, wird von Wedekind hier ausdrücklich für sein Stück als maßgeblich herausgestellt; zu den Quellen von „Totentanz“ zählt sie nicht [vgl. KSA 6, S. 639-641]. in Erinnerung ist.

Die dichterische Größe und menschliche Vertiefung des Göthischen Mephisto war mein künstlerisches Vorbild während meiner Arbeit an dem Einakter.

Ich verwarf den Titel „M.T.und wählte den anspruchsloseren Titel „T“. weil ich ihn für anmaßend hielt in der Befürchtung meinem großen Vorbild nicht im entferntesten nahe gekommen zu sein.

Mein künstlerischer Vorwurf bei meiner Arbeit war Folgendes:

Der Cyniker, der an seinem eigenen Cynismus zu Grunde gehen muß |

Der fehlerfreie Rechenkünstler der an seiner glaubenslosen Mathematik zu Grunde gehen muß.

Vor allem aber ‒ und diesen Vorgang habe ich am stärksten betont:

Der eingefleischte Pessimist, der an seinem unheilbaren Pessimismus zu Grunde gehen muß.

In der Figur des Fräulein von Malchus suchte ich ein Menschliches Wesen hinzustellen, das als lächerlich in die Handlung eintritt, das dann aber durch Aufrichtigkeit und echte Leich/d/enschaft | mehr und mehr die Sympathie des Zuhörers erobert, und sich um einen beträchtlichen Unterschied größer und schöner aus dem Stück verabschiedet als wie es in die Handlung eingetreten istzunächst mit Bleistift gestrichen, durch „war“ ersetzt und Änderung durch Unterpunktung wieder aufgehoben, dann mit Tinte erneut gestrichen sowie „war“ durch Unterpunktung als gültig markiert.. war.

Den internationalen Verein zur Bekämpfung des Mädchenhandels in dieser Figur zu persiflieren, lag mir so gänzlich fern, daß ich in der letzten Scene versäumte auf dieses Thema zurückzukommen. Um einem solchen Mißverständnis aus dem Wege zu gehen möchte ich auf Seite x Zeile x nach den Worten „…………[“] folgendes einfügen: |

Die Aufrichtigkeit dieser Äußerung wird der kein Zuhörer nach dem Vorangegangenen nicht bezweifeln können. In der Figur der Lisiska suchte ich die Nichtigkeit, die Eitelkeit des rohen Sinnengenusses zum Ausdruck zu bringen. Ich suchte den Beweis dafür nicht vom moralischen sondern vom rein sinnlichen Gesichtspunkt aus zu zum Ausdruck zu bringen/kennzeichnen/. Ich glaube mich in dieser Darstellung mit jedem verständigen Zuhörer in vollem Einverständnis zu befinden. |

In der Figur des Herrn König habe ich mich selbst als Autor in die Handlung hineingestellt um darzubieten wie ich die Anregung zu dem Einakter k empfing. Der künstlerische Idealismus in dieser Figur kann kaum von irgend Jemanden als anstößig empfunden werden.


[2. Briefentwurf:]


[Sehr geehrter Herr Direktor!

Ich danke Ihnen sehr für das lebhafte Interesse, das Sie meinem Einakter „Totentanz“ entgegenbringen. Ich ersuche Sie auch, Herrn OberRegierungsrat von GlasenappCurt von Glasenapp, Regierungsrat und Leiter der Theater- und Zensurabteilung im Königlichen Polizeipräsidium Berlin [vgl. Berliner Adreßbuch 1907, Teil I, S. 654], war für die Entscheidung verantwortlich, dass Wedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ nicht öffentlich aufgeführt werden konnte [vgl. KSA 3/II, S. 1260]., wenn Sie ihn sehen, meinem ergebensten Dank für die Würdigung Ausdruck zu geben, die Herr OberRegierungsrat so freundlich ist, für meine Arbeit an den Tag zu legen. Erlauben Sie mir nun, Herr Direktor, Sie noch auf folgende Thatsachen aufmerksam zu machen:]

Als künstlerisches Vorbild sah ich bei meiner Arbeit an dem Einakter den Götheschen Mephisto vor mir, ganz besonders die menschliche | Vertiefung und Verwirklichung, die der abstrakte Moralbegriff eines Mephisto durch Göthe gefunden hat. Als Titel des Stückes schwebte mir anfänglich vor: „Mephistos Tod“ oder „Mephistos Todeskampf“. Ich verwarf diesen Titel aber erstens weil er mir zu anmaßend erschien, sodann weil ich die Anlehnung als unkünstlerisch empfand, und drittens weil ich wol mit Recht fürchtete, meinem großen Vorbild nicht im entferntesten nahe gekommen zu sein.

Für die richtige Auffassung des Stückes von Seiten eines größeren Publikums möchte aber der Titel „Mephistos Tod“ von großem | Vortheil sein. Ich möchte Ihnen dem Stück daher für den Fall, daß eine Aufführung gestattet würde, vorschlagen, dem Stück diesen Namen Titel zu geben.

[Aus dem Titel „Mephistos Tod“ ergab sich mir die Widmung „Meiner Braut“ als ziemlich nahe liegend. Die Widmung wird m.Er., wenn der Göthesche Mephisto in Erinnerung gebracht wird, auch kaum mehr befremden können.]

Das menschliche Thema, das ich in der Arbeit zu behandeln gedachte, war folgendes.

Der Cyniker, der notwendig an seinem eigenen Cynismus zu Grunde gehen muß.

Der rohe Gewaltmensch, der | seiner eigenen Gewaltthätigkeit zum Opfer fällt.

Der fehlerfreie Rechenkünstler der an seiner glaubenslosen Mathematik zu Grunde gehen muß.

Vor allem aber ‒ und diesen Vorgang habe ich am stärksten betont ‒ der eingefleischte Pessimist, der an seinem unheilbaren Pessimismus zu Grunde gehen muß.

In der Figur des Fräulein von Malchus suchte ich ein menschliches Wesen hinzustellen, das als lächerlich in die Handlung eintritt, das dann aber durch Aufrichtigkeit und echte Leidenschaft mehr und mehr die Sympathie Theilnahmemit Tinte ergänzt. des Zuhörers erobert und | sich nach der Absicht des Verfassersmit Tinte ergänzt um einen beträchtlichen Unterschied größer und schöner aus dem Stück verabschiedet, als es in die Handlung eingetreten war.

[Den Verein zur Bekämpfung des Mädchenhandels in dieser Figur zu persiflieren lag mir so gänzlich fern, daß ich in der letzten Scene versäumte, auf dieses Thema zurückzukommen. Um einem solchen Mißverständnis aus dem Wege zu gehen, möchte ich auf Seite 56 Zeile 9 von unten, nach den Worten „unser martervolles Leben durchdringt“ einige Zeilen einfügen„Die von Wedekind erwähnte geplante Textänderung wurde gedruckt nicht realisiert.“ [KSA 6, S. 642], in denen Casti Piani seine frühere Ansicht über den Verein zur Bekämpfung des | Mädchenhandels ebenso widerruft, wie er das zur gleichen Zeit mit seinerenSchreibversehen, statt: seiner. früheren Ansicht über die Sinnlichkeit thut. An der Aufrichtigkeit dieses Widerrufes, in diesem Zusammenhang ausgesprochen, wird meines Erachtens niemand zweifeln können.]

In der Figur der Lisiska suchte ich die Nichtigkeit, oder vielmehr Unmöglichkeit eines rohen Sinnengenusses, insofern es sich um die unglücklichen Opfer handelt, darzuthun.

In der Figur des Herr König habe ich mich selbst als Autor in die Handlung gestellt und geschildert, | wie ich die Anregung zu dem Einakter empfangen. Der abstrakte Idealismus dieses Charakters kann kann meines Erachtens kaum als anstößig empfunden werden.

Die Erfahrungen, die ich mit dem Stück bis jetzt gemacht habe, sind folgende: Bei der öffentlichen Uraufführung in Nürnberg brachte das Publicum der Vorstellung vollständig, und ohne daß die geringste Störung stattgefunden hätte, die ernste Würdigung entgegen, die ich in den Scenen angestrebt habe. Die Behörde fand meines Wissens keinerlei Veranlassung, sich mit dem Stück oder mit der | Beschränkung der Öffentlichkeit der Vorstellungen zu beschäftigen.

[Wir haben den Einakter an drei Abenden gespieltNach der Uraufführung von „Totentanz“ am 2.5.1906 am Intimen Theater in Nürnberg unter der Regie von Emil Meßthaler, die „anstandslos über die Bühne gehen“ [KSA 6, S. 668] konnte, fanden am 3. und 4.5.1906 zwei weitere Vorstellungen statt (Frank Wedekind spielte den Casti Piani, Tilly Wedekind die Lisiska). und hätten, wie Sie wissen, noch zehn weitere Abende spielen können, wenn Sie den dazu nötigen Urlaub hätten erteilen können. In der literarischen Gesellschaft in Dresden las ichWedekind notierte am 12.11.1906 seine Lesung bei der Literarischen Gesellschaft in Dresden im Saal des Ausstellungspalastes [vgl. Adreßbuch für Dresden 1906, Teil II, S. 165], bei der er Szenen aus „So ist das Leben“, die Erzählung „Rabbi Esra“ und aus „Totentanz“ den „Dialog ‚Franz und Lisiska‘ (d.h. der Dialog zwischen ‚König‘ und ‚Lisiska‘ [...]) und Gedichte“ [vgl. KSA 6, S. 675] vortrug: „Vortrag in Dresden. Literarische Gesellschaft.“ [Tb] Sie wurde durchaus anerkennend besprochen [vgl. KSA 6, S. 659]. Die Kritik meinte, Wedekind sei inzwischen „ein Anerkannter“ und „ein fein und klug gestaltender Vorleser“ [Dresdner Neueste Nachrichten, Jg. 14, Nr. 309, 14.11.1906, S. 2]. im verfloßenen Winter die Verse des Stückes öffentlich vor, ohne daß meines Wissens irgend jemand Ärgernis daran genommen hätte. Die nämliche Erfahrung machte ich vor einigen Wochen mit einer öffentlichen Vorlesung des ganzen Einakters im Lustspieltheater in BudapestWedekind notierte am 14.5.1907 zum „Wedekind-Nachmittag“ [Pester Lloyd, Jg. 54, Nr. 115, 15.5.1907, S. 4] im Lustspieltheater in Budapest: „Ich lese Totentanz“ [Tb]. Die Veranstaltung (außer „Totentanz“ standen „Der Kammersänger“ und Kabarettlieder auf dem Programm) wurde ebenfalls anerkennend besprochen [vgl. KSA 6, S. 674].. |
Zum Schluß dieser Zeilen, deren Inhalt an maßgebender Stelle zu geschätzter gefälliger Erwägung zu unterbreiten Sie vielleicht für gut finden, erlaube ich mir, noch einen anderen Titel in Vorschlag zu bringen, und zwar: „Der Tod des Teufels

In vorzüglicher Hochschätzung
Ihr
Frank Wedekind


Berlin, den 4 Juni 1907.


Des Teufels Tod.]

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 8 Blatt, davon 14 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Notizbuchseiten. 10,5 x 17 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Entwurfsnotizen [Nb 41, Blatt 19r-17r] und der Briefentwurf [Nb 41, Blatt 16v-12v] im Notizbuch sind in umgekehrter Reihenfolge der Seiten notiert. Die Entwurfsnotizen sind durch Längsstriche als erledigt gekennzeichnet. Im Briefentwurf sind größere Abschnitte teilweise mit rotem Buntstift gestrichen und zwei Einfügungen mit Tinte ausgeführt; die Seiten des Briefentwurfs sind oben mit den Ziffern „1“ bis „9“ paginiert (hier nicht wiedergegeben). Umfangreichere Passagen im Briefentwurf, die durch Längsstriche als erledigt gekennzeichnet sind, sind hier in Kastenklammern gesetzt. Der auf der Grundlage der Entwürfe formulierte abgesandte Brief ist nicht überliefert; er diente als Vorlage für die handschriftliche Beigabe Wedekinds („‚Tod und Teufel‘ von Frank Wedekind“) zu dem Brief von Hugo von Tschudi an den Münchner Polizeipräsidenten Julius von der Heydte vom 30.3.1911 [vgl. KSA 6, S. 641-643].

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 4.6.1907 ist als Ankerdatum gesetzt – das Schreibdatum, dem Inhalt des Briefentwurfs in Verbindung mit dem Tagebuch zufolge. Wedekind notierte am 4.6.1907: „Brief an Barnowsky zu Hand von Glasenapp über Totentanz.“ [Tb] Der Schreibort ist durch das Tagebuch belegt.

  • Schreibort

    Berlin
    4. Juni 1907 (Dienstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
174-177
Briefnummer:
285
Kommentar:
Im Erstdruck sind die in der Handschrift durchgestrichenen Passagen in Klammern gesetzt. Den Adressaten hat Fritz Strich nicht spezifisch identifiziert; angegeben ist: „An einen Theaterdirektor.“
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
L 3501/41
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Victor Barnowsky, 4.6.1907. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

10.09.2023 13:44