München December 1884
Türkenstraße 30 Rückgebäude
Liebe Cousine, Du bist uns gewiß recht böse (Armin u FrArmin und Franklin, die beiden Brüder, studierten seit Wintersemester 1884/1885 in München; Armin Medizin, Fränklin Jura.) daß wir so lange nichts von uns hören lassen von Lenzburg nicht und jetzt da wir in München sind auch nicht, trotzdem Du uns so freundlich geschrieben hast. Aber jetzt will | ich auch alles wieder gut zu machen suchen, und darum in meinen Nachrichten gründich verfahren in der Hoffnung, daß du dadurch vielleicht wieder mit deinen reuigen Vettern zu versöhnen bist. – In den Tagen des Exils, in einsamen Stunden in weiter Ferne hast Du vielleicht dann und wann an jemanden gedacht, der sich nicht recht klar darüber ist, ob du eigentlich zürnend von ihm schiedest. Du weißt wen ich meine. – SpilkerAdolf Spilker (1863-1954), Chemiker und Unternehmer aus Vilsen. Er war vor seinem Studium der Chemie 1885 in Berlin u.a. als Pharmazeut in der „Löwenapotheke" der Familie Jahn in Lenzburg beschäftigt. hatte jenes verhängnissvolle Wort gesprochen in einem theatralischen Pathos mit dem Bewußtsein, der leider unumgänglichen Notwendigkeit klar ins offene Auge zu schauen und alles andere was du darin gelesen hat ihn sehr überrascht. Deinen Abschiedsbrief wußte er sich anfangs nicht zu deuten und pries alle Himmel, als ich, der erfahrene Sterngucker dazukam und ihm dies u jenes aufs beste zurechtlegte, so daß des Pudels Kern endlich nicht mehr gar so erschrecklich aussah wie er sich zuerst in der Hülle leidenschaftlicher Satzgebilde den Anschein gegeben hatte. Darauf bat und beauftragte mich der einigermaßen beruhigte Adolf ich möchte ihn doch dir gegenüber | in Schutz nehmen, ich möchte ihn doch dir gegenüber verteidigen ecet und dich bitten, ihm doch nicht solch unerqickliches Andenken zu bewahren. Leider hab‘ ich schon längst all das Für- und Gegen dieses weitläufigen Widerspiels vergessen und kann deshalb nichts tun, als dich bitten, Deinerseits selber das möglichst Beste von der ganzen Sache, speziell von meinem Freunde zu denken. Spilker hatt‘ ich indessen Gelegenheit in allen erdenklichen Lebenslagen kennen zu lernen und hab ihn nie anders als durch und durch gediegen und tactvoll gefunden. Und, nicht wahr, ich darf ihm in meinem nächsten Briefe Versöhnung ankünden? Es wird ihm um so erquicklicher sein, da er sich an seinem gegenwärtigen Aufenthalt nicht gerade sehr wohl fühlt und nicht selten im kühlen NordenAdolf Spilker studierte ab Wintersemester 1884/1885 das Fach Chemie an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. an glücklichere Tage im sonnigen Lenzburg zurück denkt. –
Die großen Ferien in Lenzburg sind mir schneller verflossen, als irgend ein Zeitraum meines Lebens. Du ahnst wol schon wieder, aus welchem Grunde. Und dem, liebe Cousine, hast du es auch zuzuschreiben, daß ich kein Sylbe von mir hören ließ. Aber nicht wahr, du erläßt es mir jetzt, meinem | Versprechen gemäß, dir eine Abhandlung über die ErkenntnistheorieWenn Wedekind hier von "Erkenntnistheorie" spricht, bezieht er sich primär auf Arthur Schopenhauers Schriften und nicht auf Immanuel Kant. Jedenfalls ist für die Jugendjahre keine Kantlektüre Wedekinds bekannt. Schopenhauer verstand sich als Schüler und Vollender der Kantschen Erkenntnistheorie. Alle unsere Vorstellungen, betonte er, sind subjektiver Natur und diese subjektiven Vorstellungen sind wahrnehmbar, erkennbar und systematisierbar. zu geben. Ich bin und lebe seit geraumer Zeit so unphilosophisch wie nur möglich und verlor deshalb gerade die Erkenntniß Theorie vollständig aus dem Auge. Sie behauptet ja, daß die Dinge nicht so sein müssen, wie wir sie sehen, hören, fühlen ect. sondern wahrscheinlich anders, vielleicht auch gar nicht, sind. Denn wir besitzen kein Mittel um die Zuverlässigkeit unserer Empfindungsnerven zu erweisen, können die durch jene in uns erzeugten Vorstellungen nicht mit der Wirklichkeit vergleichen, nicht ermitteln ob die Wirklichkeit unseren Vorstellungen entspricht, ja ob es überhaupt nur eine Wirklichkeit giebt; denn eben das was wir so nennen, ist ja nichts weiter als das Ensemble unserer Vorstellungen. Und wie trostlos muß dies alles für den Glücklichen sein, der nicht nur gegenüber solchen Zweifeln seine Subjektivität geltend macht, sondern außerdem, | darüber hinaus noch allerlei fühlt, sieht und hört, was auch die unphilosophischen Menschen in das Gebiet der Phantasie, der Einbildung, der Hypersubjektivität verweisen !!! Und nun rate einmal, meine liebe Minna, –– was mir diesmal übers Leberlein gekrochen. Daß es nichts Alltägliches, daß es etwas ganz besonderes ist, kannst du dir ja denken. Aber was? – Es nimmt mich in der Tat recht wunder, ob du auf die richtige Fährte gerätst. Damen haben in der Regel in solchen Dingen einen bedeutend feineren Instinkt, als wir plumpen, bärenhaften Männer. Ein Wort, ein Blick, ein zarter Wink genügt ihnen, um mit klaren Augen die Carten ihres Nächsten zu überblicken. Übrigens will ich Dir sagen wie sie heißt. Ihr Name ist Laura
O Laura, LauraWedekind zitiert hier die 17. und 18. Strophe aus Teil V des insgesamt 43 Strophen umfassenden Gedichts "Der Kuss, in seiner Entstehung und Fortentwicklung bis zur höchsten Vollkommenheit nach dem Leben dargestellt". Das Gedicht entstand am 19.9.1884 in mehreren Fassungen, s. STA 1/I, S. 155ff. u. STA 1/II, S. 1247ff. Die Fassung vom Dezember 1884 ist ausdrücklich der Lenzburgerin Bertha Jahn gewidmet, der er im Dezember das Gedicht von München aus zusandte. Der Name Laura ist durch Petrarcas "Sonette an Laura" (1470) bekannt geworden, welche in der Folge auf die europäische Liebeslyrik vorbildhaft einwirkten. tausend Seligkeiten
In einen einzgen Augenblick gedrängt
Die Freuden aus der Menschheit Jugendzeiten
Vom schönsten Zuge der Natur gelenkt.
Der Kindheit unschuldsvolle zarte Spiele
Verwandelt in unendlichen Genuß –
O Laura – alle seligen Gefühle
In einem einzigen
und so geht es weiter. |
Aber wer diese Laura ist, – das zu erraten überlaß' ich deinem Scharfsinn. Uebrigens glaube nicht, daß ich dich hinters Licht führen will. Meine Laura existiert wirklich. Sie leibt und lebt in Lenzburg, ist in Lenzburg geboren, und auch du genießest die Gunst des Geschickes, ihre hehre Persönlichkeit zu kennen Daß ich unter solchen Umständen die Herrlichkeiten Münchens anfangs nur mit halben Ohr, mit halbem Auge in mich aufnahm, wirst du selbstverständlich finden. Ich irrte in den Straßen dieser Stadt trostlos umher, wie Max Piccolomini im vierten ActFigur aus Friedrich Schillers zweitem Teil der Wallenstein-Trilogie „Die Piccolomini“ (1798). Die Trilogie zählte zur Pflichtlektüre auf der Kantonsschule in Aarau. ums Haus herum: und deshalb ging es auch ungewöhnlich lang, bis es mir gelang, mich für eine der hiesigen Schauspielerinnen zu erwärmen. Übrigens mag der Grund auch darin liegen, daß einem in der Tat die Wahl schwer wird. Die eine singt bezaubernd, die andere besitzt eine entzückende Figur und das Minenspiel einer dritten ist so hinreissend, daß es zur Mode des Tages gehört, davon hingerissen zu werden. Aber du weißt ja liebe Minna, daß ich von jeher ein Feind der Tagesmode war, oder vielmehr ein | großer Freund, denn sie macht es mir möglich für meine Person immer etwas Apartes zu haben. Und so huldige ich auch in dieser Branche nicht dem Geschmack der Welt, sondern meinem eigenen, der nicht unbedeutend von jenem abweicht. Es haben ihn zwar competente Leute schon einen verdorbenen Geschmack genannt. Aber mit Unrecht, denn er ist von jeher so gewesen und nur wenn er durch äußere Einflüße sich änderte, und wär es gerade zum Guten, zum Reineren, dann könnte man ihn mit Recht einen verdorbenen Geschmack nennen. Nicht wahr liebe Cousine? ——
Seit wir hier sind, bin ich jede Woche sechs bis sieben Mal ins Theater gegangen. Wir Studenten haben im Stehparterre ermäßigte Preise und bilden von dort aus, was den Applaus anbetrifft, ein ausschlaggebendes Centrum. Und jetzt leb wohl, liebe Minna, antworte mir recht bald und sei tausendmal gegrüßt von deinem treuen Vetter
                                                      Franklin.
Armin läßt ebenfalls grüßen.