München, Franz
Josephstr. 48/II.
den 5. Dezember
1899.
Kälte, Schnee und
Regen.
Mein lieber
Wedekind,
Ihr Brief Gemeint ist Wedekinds Brief vom 9.11.1899, geschrieben aus der Haft auf Festung Königstein.war mir eine große Freude
und Überraschung. Eine Überraschung besonders deshalb, weil ich Ihnen im Januar
d. J. sehr eingehend und nicht ohne Gemüt nach Paris geschrieben hatteGemeint ist offenbar Martens' Brief an Wedekind vom 5.2.1899, in dem er u.a. von seiner kürzlichen Verlobung mit Mary Fischer berichtet hatte., ohne
daß Sie all meine sensationellen Mitteilungen incl. Verlobungsanzeige einer
Antwort gewürdigt hätten. Vielleicht aber ist jenes Schreiben nicht an die
Adresse gelangt, die ich von Hans Richard erfahren hatte. Eine „Gratulation“
erwartete ich auch nicht. Sie wurde mir mit Recht von allen weiseren Männern
vorläufig | versagt. Denn a priori (lat.): grundsätzlich, ohne weitere Beweise.ist natürlich jede
Ehe eine Thorheit und eine große Gefahr. Ich hätte mich auch wohl gehütet, mich mit
einem Geschlechtsweib, einem „Vollweib“, überhaupt mit einem Weibe
zusammenzuketten, das irgend welche Genuß- oder
Herrscherinstinkte hat. Solch eine Ehe muß ja den Mann zu Grunde
richten. Meine Frau ist aber auch kein Gänschen, denn sie ist weder
oberflächlich, noch albern, noch eitel. Sie hat eigentlich nur eine
Eigenschaft – und jetzt gerate ich in bewußten Enthusiasmus – sie ist von einer
grenzenlosen Güte! Nun sehe ich das Lächeln der Verachtung auf Ihren schönen,
ausdrucksvollen Lippen. Aber ich kann Ihnen nur sagen, daß eine ähnliche Frau
Ihnen noch weit besser bekommen würde als mir, und | zwar auf/s/ gleichen Gründen.
Sie beeinflußt mich in keiner Weise, weder meine Anschauungen, noch meine
Beschäftigung noch meine spärlichen Genüsse. Sie lebt einzig der
Aufgabe mir zu Hause eine warme Athmosphäre von Liebe und Stille zu
bereiten, mich zu pflegen, zu beruhigen, mir einen Nachkommen zu gebären und
aufzuziehen, einen Nachkommen, der, wie ich zuversichtlich hoffe, von einer
guten, wenn auch nicht robusten Race sein wird. Also, um mich auf eine
philosophische Autorität zu stützen, ein Weib nach dem
Rezept von NietzscheMartens' Maximen sind an Nietzsches Ausführungen über das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in „Also sprach Zarathustra“ (1882-1885) angelehnt: Demnach findet die Frau ihre höchste Erfüllung in der Mutterschaft; für den Mann, der „Gefahr und Spiel“ liebt, ist sie das „gefährlichste Spielzeug“, aber keine gleichwertige Gefährtin [Nietzsche 4, S. 84-86].: Keine Gefährtin, auch kein
Genußmittel, aber eine Basis für die allzumenschlichen Instinkte. Insofern kann
ich schon sagen, daß ich glücklich bin, soweit es eben je|mand sein kann, der
weder Genie noch Kraftmensch‚Genie‘ und ‚Kraftmensch‘ sind anthropologische Kategorien des literarischen Sturm und Drang, ideal verkörpert in Goethes götterstrotzendem „Prometheus“ (1772/74). ist, sondern sein kleines Leben mit Kompromissen
fristen muß. Für mich giebt es keine Tragödie, aber auch keinen Rausch. Selig
kann ich nur noch sein, wenn mir künstlerisch etwas
gelungen ist. Wenn ich Ihre Natur besäße, so wüßte ich schon, was ich
thäte. Zunächst heiratete ich gleichfalls, womöglich Frau Strindberg, dann
schlösse ich gleichfalls zunächst einige ungefährliche Kompromisse, nähme z. b.
irgendeine feste Stellung an einer Zeitung oder einem Theater an, schriebe ein
nicht allzu wüstes, bühnenmäßiges Stück, würde überhaupt den Staatsangehörigen
vorläufig die Meinung erwecken, ich wäre gesonnen, mich ihren Einrichtungen
anzubequemen. | Das klingt Ihnen wahrscheinlich alles abscheulich. Aber nach
meiner und aller Ihrer Freunde Überzeugung ist das der erste und notwendigste Kompromiß, den Sie schließen müßten.
Verzeihen Sie mir, lieber Wedekind, diese philiströsen Redensarten. Aber ich
habe die letzten 11 Monate mehr mit Ihnen mich beschäftigt als Sie glauben und
habe mich in fremden Menschen immer besser zurecht gefunden, als in mir selber.
Hier leitet jetzt Bierbaum mit zwei jungen Leuten und 5 Millionen Kapital die
„InselDie anspruchsvolle literarisch-illustrierte Monatsschrift „Die Insel“ erschien – anfangs herausgegeben von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel (der auch das Startkapital aufbrachte) und Rudolf Alexander Schröder – von Oktober 1899 bis September 1902. Wedekind stand in enger Beziehung zu der Zeitschrift, in der 1900 sein Drama „Marquis von Keith“ (unter dem Titel „Münchner Scenen“) und 1902 die Erzählung „Mine-Haha“ erschienen. Für das 10. Heft des 3. Jahrgangs (Juli 1902), in der Wedekinds Drama „Die Büchse der Pandora“ vorabgedruckt wurde, zeichnete er auch als Redakteur verantwortlich.“, eine hoffnungsvolle Kunstzeitschrift. Das wäre so ein Weideplatz für
Sie! – Was Sie im übrigen von München gehört haben,
weiß ich nicht, kann Ihnen also nur das Wesentlichste berichten. Ich selbst
sitze mit im Vorstand der Litt. Gesellsch.Martens war Mitglied im erweiterten Vorstand der Münchner Lit(t)erarischen Gesellschaft, die im November 1897 auf Initiative von Ernst von Wolzogen und Ludwig Ganghofer gegründet worden war. Ziel des Vereins war neben der Organisation der in München lebenden Schriftsteller vor allem die Förderung der literarischen Moderne durch die Veranstaltung von Vortragsabenden und Aufführungen von Dramen vornehmlich jüngerer Autoren wie Otto Erich Hartleben, Hugo von Hofmannsthal, Maurice Maeterlinck, Johannes Schlaf und Arthur Schnitzler. Die Inszenierungen im Münchner Gärtnerplatztheater leitete anfangs Wolzogen, nach dessen Ausscheiden Ganghofer, später der Schauspieler Friedrich Basil. Über eine Mitwirkung des von Martens erwähnten Regisseurs Georg Stollberg ist nichts bekannt. Im Frühjahr 1900 stellte die Gesellschaft ihre Tätigkeit ein [vgl. Wülfing/Bruns/Parr 1997, S. 340-343]. In zeitlicher Nähe zu seinem Brief wurde Martens auf einem der ersten Vortragsabende der Gesellschaft (26.11.1899) zusammen mit Thomas Mann u.a. „Münchner Autoren“ dem Publikum vorgestellt., die mühsam gute Stücke | für ihre
Aufführungen sucht und meist unter Stollbergs Regie im Gärtnerplatztheater
spielt. Den Montag-Abend der „UnterströmungDie „Unterströmung“ war eine um 1898 von dem Schrifsteller Max Halbe gegründete zwanglose Münchner Kegelrunde [vgl. Martens Brief an Wedekind vom 5.2.1899]“ besuche ich nicht mehr, da er ganz
in ein rauhbeinig-socialdemokratisches FahrwasserDer Journalist Edgar Steiger war 1897 im sogenannten Nazarener-Prozess als verantwortlicher Redakteur der sozialdemokratischen Sonntagsbeilage „Die Neue Welt“ zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Im März 1898 übersiedelte er von Leipzig nach München, wo er u.a. Mitarbeiter des „Simplicissimus“ und Theaterreferent bei den „Münchner Neuesten Nachrichten“ wurde. geriet. Steiger, der übrigens
kürzlich aus den „Münchener Neuesten“ als Theaterkritiker zur allgemeinen
Schadenfreude wieder ausgewiesen wurde, beherrscht dort alles mit seinem
brutalen Mundwerk. Halbe geht noch regelmäßig hin; weshalb begreife ich nicht.
Sonst sind nur noch ganz unwesentliche Leute da. Besonders in dieser
Gesellschaft wurden Sie viel ver|lästert. Hauptvorwurf: Sie hätten sich vor
Gerichtvgl. hierzu Wedekinds Brief an Martens vom 9.11.1897. von der Majestätsbeleidigung dadurch zu reinigen versucht, daß Sie
ihren Wohltäter Langen beschuldigten, er habe
durch die Honorare Sie verlockt wider Ihre bessere Überzeugung solch gefährliches Zeug zu
schreiben. – Nun, sei dem wie ihm wolle. Sie wissen, daß noch ärgere
Schandthaten mich nicht zur sittlichen Entrüstung zwingen konnten. – Weber läßt
Sie vielmals grüßen und will Ihnen auch nächstens schreiben. Er wohnt in einer
entzückenden Villa mit seiner – jetzt legitimen – Frau in Mü-WittelsbachGemeint ist die Villenkolonie Neuwittelsbach im Münchner Stadtteil Nymphenburg (heute: Neuhausen-Nymphenburg)., sodaß
ich ihn seltener sehe. | Sonst sehe ich nur gelegentlich mal jemand, besonders Kaspers.
Mit Peter Altenberg war ich ein paar Mal zusammen. Er lebt jetzt hier und hat
in seinem Wesen und z. T. auch in seinem Äußern eine verblüffende Ähnlichkeit
mit Ihnen. Die litterarischen Salons besuche ich nicht mehr. Sobald ich sie
einmal kennen gelernt hatte, langweilten sie mich natürlich. Ich höre viel
Musik. In Konzerten oder zu Haus. Denn meine Frau spielt recht gut. Zum Zwecke
des Neben-Verdienstes schreibe ich Recensionen, u. habe mich von der „Zeit“Die Wiener Wochenzeitung „Die Zeit“ erschien von 1894 bis 1904. Kurze Notizen aus dem Münchner Theaterleben von Martens erschienen, soweit nachweisbar, mindestens zwischen Januar und März 1900 innerhalb der Rubrik "Kunst und Leben" [vgl. Die Zeit, Bd. 23, Nr. 278, 27.1.1900, S. 62 u. Nr. 283, 3.3.1900, S. 141; jeweils: "Man schreibt uns aus München [...] Kurt Martens."]. als
Theaterkritiker f. München anstellen lassen. Einen neuen RomanGemeint ist möglicherweise Martens' Roman "Die Vollendung" (1902). hab ich
begonnen. |
Besuchen kann ich Sie unmöglich in Ihrer Haft. Vorläufig bin ich überhaupt hier
gefesselt durch die Niederkunft meiner FrauHerta Helena Martens wurde zu Weihnachten 1899 geboren. zu Weihnachten, durch Besuch meiner
Mutter etc. Aber Ihre HaftWedekind wurde am 3.2.1900 aus seiner Festungshaft wegen Majestätsbeleidigung entlassen [vgl. Wedekinds Brief an Martens vom 9.11.1899]. wird doch auch inzwischen
ablaufen. Dann kommen sie doch wohl sofort wieder her?
Liebster, leben
Sie wohl!
Ewig der Ihrige
Kurt
Martens.