München, December 84.
Liebe Frau Tante,
Ihre drei NeffenWalther Oschwald, Armin Wedekind und Frank Wedekind; nur mit ersterem war Bertha Jahn verwandt, für Frank Wedekind und seinen Bruder Armin war sie eine sogenannte Nenntante, das heißt eine mit der Familie befreundete oder gut bekannte erwachsene Person, die von den Kindern und Jugendlichen den Usancen folgend als Tante angeredet wurde. erlauben sich, Ihnen in kindlicher
Ergebenheit ihr BildFotokarte [Aa, Wedekind-Archiv C, Mappe 10; abgedruckt in Vinçon 2021, Bd. 1, S. 69], auf der Walter Oschwald (sitzend, links), Frank Wedekind (stehend) und Armin Wedekind (sitzend, rechts) um einen Tisch herum zu sehen sind. zu überreichen. Ich bin leider nur als Torso darauf. Der
KünstlerDas Foto trägt den Namensaufdruck „F. X. Ostermayr“ mit der Adresse „MÜNCHEN Schiller Str 4/0“, der Fotograf Franz Xaver Ostermayr in München (Schillerstraße 4, Parterre) [vgl. Adreßbuch von München 1885, Teil I, S. 368; Teil IV, S. 137]. hat meine beiden Beine vollständig vergessen. Aber Walter und Armin
sind dafür um so
besser und ebenso die Meh Meerschaumpfeife, die ihres/m/ inneren
Werthes gemäß den Mittelpunkt der ganzen Gruppe bildet. – Walter schickt
seiner werthen Frau MutterFanny Oschwald, die Schwester Bertha Jahns. natürlich auch ein Exemplar und Armin | sendetDen Brief mit dem Bild schrieb Frank Wedekind an seine Mutter– vermutlich am selben Tag wie den vorliegenden an Bertha Jahn [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 31.12.1884]. eins
nach Hause. Darum, und weil wir außerdem noch von/für/ jeden von uns ein
Bild machen ließen, ging es auch so lange, bis sie fertig waren.
Am heiligen Abend hatte uns Walter auf seine BudeWalter Oschwald, Jurastudent und späterer Schwager Wedekinds aus Lenzburg, wohnte in München in der Theresienstraße 38, 2. Stock rechts [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 63], keine 200 Meter von der Wohnung der Wedekind-Brüder in der Türkenstraße 30 entfernt. zum Thee gebeten und einen
weihevollen Christbaum dazu angezündet. Wie erstaunten wir aber als gleich auch
eine Bescheerung darunter lag. Es waren die prachtvollen Bärenmutzen„Honig-, Lebkuchen [...] mit dem Gepräge oder von der Form eines Bären, Festgebäck für die Kinder um Weihnachten und Neujahr“ [Schweizerisches Idiotikon, Bd. 4, S. 617]. mit den
vielbedeutenden Zeichnungen und mit den Sprüchlein von mir wolbekannter Hand
darauf. Tausend Dank, liebe Tante für die süße, sinnige Gabe! Ich war geraume
Zeit in Gedanken versunken über dem plötzlichen Wiedererscheinen meiner
geliebten Musewie schon im vorangegangenen Brief Metapher für dichterische Inspiration.. Ich glaubte auf meinem Munde den heißen schöpferischen Kuß
ihrer | jugendlichen Lippen zu fühlen und der entschwundene frische Lebensmuth
schien mich, den AltagsmenschenSchreibversehen, statt: Alltagsmenschen., von Neuem durchrieseln zu wollen. Aber Es ist
zu kaltIn München herrschte seit dem 23.12.1884 Dauerfrost [vgl. Wetterkarte und Wetterbericht der Kgl. Bayer. Meterologischen Centralstation München für jeden Tag des Jahres 1884. München 1884]. dazu. Und ob die Muse nun gleich auch wieder singen wird, möcht’ ich sehr bezweifeln. Die
schöne freie Natur ist eingeschneit, auf meiner Bude herrscht constant
ungemüthliche Kühle und vorerst immer einzuheizen, ist auch nicht das Wahre. –
Aber sie schmeckten ganz famos, die Bärenmutzen, gewürtzt mit manch’
süßer Erinnerung und vielen anderen Gewürzen. Auch Armin läßt Ihnen seinen besten Dank melden. Er wollte
zwar zuerst die Devise von der Liebe für seine Person nicht gelten lassen, aber
wir beswiesen ihm ohne viel Mühe, daß er doch von jeher darnach
gehandelt | habe und daß Sie mit Ihren Worten nur den Nagel auf den Kopf
getroffen hätten. – Nachts Um Mitternacht gingen wir in die MesserSchreibversehen, statt: Messe. Walther Oschwald, Frank und Armin Wedekind besuchten die Messe in der Ludwigskirche [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 31.12.1884].. Aber
es war gar nicht feierlich; das Publicum nur zum geringsten Theil andächtig,
die meisten Leute ein
wenig angeheitert.
Und nun leben Sie woll/hl/, liebe Tante. All’ den
Ihrigen und vor allem Ihnen selbst wünsche ich ein fröhliches Neujahr und Glück
und Segen für alle Zukunft. Behä/a/lten Sies in gnädig gewogenem
Andenken Ihren dankbaren Neffen Franklin. –––